Nadjeschda Stoffers (BIK) und Anne Unterwurzacher (IAI) leiteten vom 01.09.2023 – 30.06.2024 eine Bachelorprojektwerkstatt an der FH St. Pölten, die sich mit der niederösterreichischen Kinder- und Jugendfürsorge aus der Perspektive der Geschlechtergeschichte beschäftigte. Im Mittelpunkt der studentischen Forschungsarbeiten zur regionalen Professionsgeschichte standen „ledige“ Mütter als eine spezifische Gruppe von Klientinnen der Kinder- und Jugendhilfe. Unehelich geborene Kinder standen von 1910 bis 1989 unter Vormundschaft des Jugendamtes. Dies hatte zur Folge, dass ihre Mütter der Kontrolle der Kinder- und Jugendfürsorge unterworfen waren. Fürsorger*innen führten regelmäßig unangekündigte Hausbesuche durch, die dabei in Berichten festgehaltenen Eindrücke waren die Grundlage für behördliche Entscheidungen (z.B. Verbleib bei der Mutter, Unterbringung in Pflegefamilien oder Heimen). Ausgehend vom bürgerlichen Kernfamilienmodell wurde „ledigen“ Müttern von Seiten der Jugendfürsorge, der Gesellschaft und der Judikative oft unterstellt, dass sie vor allem in sittlich-moralischer Hinsicht keine ausreichenden Erziehungskompetenzen besäßen. Die behördliche Fürsorge war zudem für Einvernahmen und Unterstützung im Rahmen von Vaterschaftsfeststellungen zuständig. Frauen mussten dabei den meist männlichen Behördenleitern intimste Details aus ihrem Privatleben erzählen, die auch in den Akten festgehalten wurden. Ab 1970 konnten die Mütter unehelich geborener Kinder die Vormundschaft für selbige per Gerichtsbeschluss erhalten; allerdings musste das Jugendamt dem zustimmen. Erst mit der Abschaffung der Amtsvormundschaft im Jahr 1989 erhielten „ledige“ Mütter dann automatisch die Obsorge über ihre unehelich geborenen Kinder.
Aufgrund der schwierigen Archivsituation in St. Pölten wurde die ursprüngliche Idee, sich zusätzlich zur fürsorgerischen Praxis der Amtsvormundschaft auch bislang unsichtbaren weiblichen Berufsbiographien zu widmen, aufgeben. Es bleibt daher zukünftiger Forschung überlassen, sich mit Geschichten wie jener der Luise Feldmann zu beschäftigen, die bereits in den 1920er Jahren das St. Pöltner Jugendamt leitete.
Eingebunden in das first-Netzwerk Interdisziplinäre Regionalstudien haben wir unsere Forschung als interdisziplinäres Projekt angelegt, welches Sozial- und Geschichtswissenschaften sowie (Professionsgeschichte der) Soziale(n) Arbeit miteinander verknüpfte und unterschiedliche methodische Zugänge ermöglichte.
Im Rahmen von mehreren Exkursionen (u.a. in das Niederösterreichische Landesarchiv, in die Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien und in die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien) bekamen die Studierenden Gelegenheit, sich mit unterschiedlichen historischen Quellentypen auseinanderzusetzen und ihre Forschungsinteressen zu definieren. Diesen Prozess begleiteten wir laufend im Rahmen von gemeinsamer Weiterentwicklung und Eingrenzung der Themen in den Einheiten sowie mehreren Sprechstunden unter sechs Augen und mehreren Feedback-Schleifen.
Insgesamt leisteten die Studierenden mit ihren empirischen BA-Arbeiten einen wichtigen Beitrag zur regionalen Professionsgeschichte: Ein Teil der Studierenden analysierte ausgewählte Mündelakten der BH Amstetten (1955–1975) und BH St. Pölten Land (1945–1955). Andere Studierende interviewten pensionierte Sozialarbeiter:innen über ihre Erfahrungen mit der Ausgestaltung der Amtsvormundschaft und der veränderten Fürsorgepraxis in Folge der Gesetzesänderung im Jahr 1989. Im Mittelpunkt einer studentischen Arbeit standen zudem die (auto)biographischen Erfahrungen einer Frau, die als Kind ihrer jenischen Mutter abgenommen worden und lange Jahre in Heimen untergebracht war.
Folgende Einzelarbeiten wurden verfasst:
- Berger Alexandra: Kinder- und Jugendhilfe um 1989: Zwischen Hilfe und Kontrolle. Ein Blick von Fachkräften auf das Spannungsverhältnis der behördlichen Sozialarbeit.
- Böhm Juliane: Argumentationslinien von Fürsorger*innen bei Kindesabnahmen anhand eines Falles der BH Amstetten in den 1950er Jahren.
- Dvoran Martin: Auf den Spuren jenischer Erinnerung – Fürsorgeerziehung und ihre Folgen nach 1945.[1]
- Eckerl Jennifer: Vaterschaftsfeststellungen: Eine Analyse von Mündelakten der BH Amstetten (1969-1973).
- Irmler Marcel: Die Abschaffung der Amtsvormundschaft 1989 für ‚ledige‘ Mütter aus Sicht der damals tätigen Sozialarbeiter*innen.
- Mayer Pia: Die Charakterisierung von Minderjährigen durch Fürsorgerinnen in Mündelakten im Raum Amstetten der Jahrgänge 1963,1969,1971.
- Obermüller Lisa: Was die Sprachpraxis der Fürsorgerinnen über die Konstruktion devianter Familienformen verrät (1950-1970). Eine intersektional angelegte Case Study am Beispiel eines Mündelaktes der Bezirksjugendämter St. Pölten und Wien.
- Unterberger Mona: Eine uneheliche Mutter im Spannungsfeld zwischen Vaterschaftsfeststellung und -aberkennung 1952-1964. Case Study am Beispiel einer Mündelakte der BH St. Pölten.
- Thorwartl Bernhard: Zwischen Schule und Fürsorge: Zuschreibungen und deren Bedeutungen für alleinerziehende Mütter und deren Kinder.
Der von uns gewählte Zugang erwies sich aus mehreren Gründen als innovativ und als überaus relevant für die Ausbildung zukünftiger Sozialarbeiter:innen: Die Recherche in Archiven und die quellenkritische Aktenauswertung ermöglichte einen für die Studierenden neuen Zugang über ihre bisherige Methodenausbildung hinaus. Als zukünftige Aktenproduzent:innen sensibilisierte die historische Aufarbeitung die Studierenden in hohem Ausmaß für die Wirkmacht gesellschaftlicher Norm- und Wertvorstellungen auf die sozialarbeiterische Sprach- und Handlungspraxis. Es wurde zudem deutlich, wie ungebrochen sich bestimmte Denkmuster aus der Zeit des Nationalsozialismus (Stichworte „Asozialität“ und „Verwahrlosung“) mitunter in den Akten der Nachkriegszeit wiederfinden. Jedenfalls ermöglichen ein solcher Quellenkorpus und Zugang den Studierenden, aus der vertieften Kenntnis vergangener Konstellationen neue Perspektiven auf die (auch gegenwärtige) sozialarbeiterische Praxis zu entwickeln. Die Frage, wie wohl in 30 Jahren auf die heutige Praxis geblickt wird, hat die Studierenden dabei besonders beschäftigt.
Zudem wurde deutlich, wie wichtig es ist, die Aufarbeitung der Professionsgeschichte nicht ausschließlich anderen Disziplinen zu überlassen. Im Gegenteil: Sozialarbeitsstudierende brachten einen ganz eigenen Blick und eigene Fragestellungen mit, die mitunter andere Lesarten im Quellenmaterial zuließen. Die Erforschung diskriminierender und bevormundender Verwaltungsprozeduren lenkt(e) den Blick auf frauenspezifische Erfahrungen mit der lokalen Jugendwohlfahrt und verdeutlicht, wie wichtig ein intersektionaler Zugang als wesentlicher Bestandteil des Fachwissens Soziale Arbeit ist.
Wir sehen unsere Projektwerkstatt als ein wichtiges Mosaiksteinchen, um auch in Niederösterreich die schwierige Geschichte der Kinder- und Jugendfürsorge systematischer zu beleuchten. Die Studierenden ermittelten im Rahmen ihrer Arbeiten weiteren Forschungsbedarf: Fragen der Fremd-unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien und Heimen und wie diese von den Fürsorgerinnen legitimiert wurden, sind in Niederösterreich noch kaum untersucht. Immer wieder wurden Kinder für eine bestimmte Zeit in der heilpädagogische Beobachtungsstation in Mödling untergebracht, teils aus unerheblichen Gründen (z.B. Bettnässen); auch hier fehlt bislang eine umfassende Aufarbeitung des Trends zur „Heilpädagogisierung“ der Fürsorgearbeit in den 1960er und 1970er Jahren. Die gesellschaftliche Degradierung und Pathologisierung im Rahmen von Vaterschaftsfeststellungen bedürfen ebenfalls weiterer Forschung. Neben der umfassenden Analyse von geschlechtsspezifischen Ordnungsvorstellungen wäre der Einbezug weiterer Differenzkriterien (v.a. Klasse, Ethnizität und Minderheitenstatus) ein ertragreiches Forschungsvorhaben. Und nicht zuletzt wäre es wichtig, sich systematisch der Frage nach den Kontinuitäten von Denkmustern aus der Zeit des Nationalsozialismus zu widmen.
[1] Die Arbeit von Martin Dvoran liegt erfreulicherweise in der Ausstellung „Blick in den Schatten. St. Pölten und der Nationalsozialismus“ auf. Die Ausstellung ist noch bis 25.05.2025 im St. Pöltner Stadtmuseum zu sehen, nähere Infos hier: https://www.stadtmuseum-stp.at/veranstaltungen/blick-in-den-schatten-st-poelten-und-der-nationalsozialismus/ (abgerufen: 26.06.2024)