Dezember 1979. Die dreizehnjährige Güldane Gönül reist mit ihren zwei jüngeren Geschwistern in einem überfüllten Zug von der Türkei nach Österreich. Viele Jahre später wird sie sagen: „Wenn ich schon nicht in der Türkei mein Leben verbringen durfte, dann möchte ich wenigstens dort begraben werden“. Noch aber bestimmen die Eltern ihren Lebensweg. Und dieser führt von Malatya über Istanbul und Schwarzach nach Jenbach, Tirol.
Güldane Gönül kam 1979 als 13-jährige im Rahmen der Familienzusammenführung nach Österreich. Ihr Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren Hilfsarbeiter bei den Jenbacher Werken in Tirol, die Mutter war ihm schon drei Jahre früher gefolgt. Güldane und ihre zwei jüngeren Geschwister waren bei den Großeltern in der Türkei geblieben, bis diese eines Tages die Verantwortung für die Enkelkinder nicht mehr übernehmen konnten. „Wir wollten nicht her, aber sind auch nicht gefragt worden“, brachte es Frau Gönül auf den Punkt. Von der gewohnten Umgebung herausgerissen in ein Land, in dem sie sich nicht verständigen konnte, in eine Schule, wo sie anfangs stundenlang gesessen ist, ohne ein Wort zu verstehen. Auch mit der Schrift konnte sie zunächst nichts anfangen, denn in der Türkei lernt man Block-, nicht Schreibschrift. Der Umzug nach Österreich war für sie ein Schock, der noch heute tief sitzt.
Güldane Gönüls Migrationsgeschichte ist kein Einzelfall, vielmehr ist sie ein Paradebeispiel für den gescheiterten damaligen Plan, „Arbeitskräfte“ lediglich auf befristete Zeit nach Österreich zu holen. Ab 1955 herrschte in Österreich aufgrund des Wirtschaftsaufschwungs Vollbeschäftigung, Arbeitskräfte wurden dringend benötigt. Um den Bedarf zu decken wurden Anwerbeabkommen mit Spanien (1962), der Türkei (1964) und Jugoslawien (1966) geschlossen.
Über die Anwerbestelle in Istanbul bekam Ali Şahin, Frau Gönüls Vater, im Jahr 1969 die Zusage für eine Arbeitsstelle in den Jenbacher Werken in Tirol, einem Hersteller von Dieselmotoren und Lokomotiven, der heute im Besitz von General Electric ist. Als ihr Vater nach Österreich aufbrach, war Frau Gönül drei Jahre alt. Kindheitserinnerungen an ihn hat sie keine, dafür reichte ein kurzer jährlicher Besuch nicht aus. An den Tag ihrer Ankunft im Dezember 1979 erinnert sie sich hingegen sehr gut. „Richtig angekommen bin ich nie“, sagt Frau Gönül mit einem ironischen Lächeln. „Aber ja, kalt war es. Nicht nur das Wetter, auch die Menschen“. Weihnachtsbeleuchtung kannte sie nicht, diese faszinierte sie. In Jenbach am Bahnhof wurden sie und ihre Geschwister von einem Nachbarn der Eltern abgeholt und nach Hause gebracht. Die Wohnung – zur Verfügung gestellt von den Jenbacher Werken– bestand aus einem Schlafzimmer und einer Wohnküche. „In einem ehemaligen Gasthaus. Sehr primitiv. Im Gang gab es ein Bad und WC, die [sic!] mindestens 30, 40 Leute benutzt haben. Wir hatten keine abgeschlossene Wohnung“, erinnert sich Frau Gönül. Die Enttäuschung war damals sehr groß: „Europa haben wir uns ganz anders vorgestellt. In der Türkei hatten wir damals eine normale Wohnung gehabt, mit Bad und Klo“, so Frau Gönül. Tatsächlich haben viele „Gastarbeiter“ in schlechten Verhältnissen gewohnt: in relativ billigen Substandardräumlichkeiten oder in ehemaligen Gasthäusern, die die Arbeitgeber als Wohnraum für die Eingereisten zur Verfügung stellten.
Auch an ihre Schulzeit in Österreich hat Frau Gönül keine positiven Erinnerungen. Die dreizehnjährige Güldane kam als Schülerin ohne sprachliche Vorkenntnisse in die Jenbacher Hauptschule. Ihre Mutter war Analphabetin, jedoch sehr streng, was das Erlernen der deutschen Sprache betraf. Mit dem Ziel, dass ihre Kinder nicht Hilfsarbeiter_innen werden sollten, galten für die Heranwachsenden zuhause strenge Regeln: „Die Mama war sehr dahinter. Und wir haben auch sehr diszipliniert Deutsch gelernt, sehr. Jeden Tag. Wir durften nicht einen Tag auslassen. Am Anfang nur mit ein, zwei Wörtern und dann sind es fünf Wörter gewesen. Und so haben wir weiter gemacht bis wir Sätze bilden haben können, reden haben können“. Doch nicht nur die Sprache war eine Herausforderung, auch die Schulkolleg_innen haben es ihr nicht leicht gemacht. Besonders negativ erinnert sie sich an einen Schulausflug nach Wien, wo ihre Mitschülerinnen das Hotelzimmer nicht mit ihr – der Ausländerin – teilen wollten. Frau Gönül kommen noch heute die Tränen, wenn sie davon erzählt.
Damit Güldane später eine Lehre als Handelskauffrau machen konnte, überredete ihre Mutter Emine ihren Mann, um die österreichische Staatsbürgerschaft für die ganze Familie anzusuchen. Denn damals durften Jugendliche ohne österreichischen Pass nämlich nur in Mangelberufen eine Lehre eingehen. 1982 erhielt Familie Gönül schließlich die österreichische Staatsbürgerschaft. Den Landsleuten aus der Türkei haben sie das jedoch verschwiegen: „Wir haben verheimlichen müssen vor Bekannten und auch vor Verwandten, dass wir Österreicher geworden sind. Wir mussten dabei ja auf die türkische [Staatsbürgerschaft] verzichten und das war nicht angesehen“.
Auf die Frage, welche Botschaft sie den Menschen in Österreich hinterlassen möchte, überlegte Frau Gönül keine Sekunde: „Viele meinen, man hat ihnen die Arbeit weggenommen, aber so ist es nicht. Unsere Eltern, wir, sind ja geholt worden, um dieses Land aufzubauen, nach dem Krieg. Die sind nicht selber hergekommen und haben die Arbeit weggenommen. Und die meiste Drecksarbeit haben die Ausländer damals gemacht, Hilfsarbeiten, und dabei weniger verdient als Österreicher. Niemand braucht neidisch sein auf Ausländer“.
Frau Gönül lebt heute in Vomp in Tirol, hat drei Kinder und spielt mit dem Gedanken in die Türkei zurück zu ziehen. Dort möchte sie begraben werden, dort, wo sie sich zuhause fühlt. Hier fühle sie sich nicht wohl. Hier habe sie keine „Wurzeln“. Ihre Worte sind klar, deutlich, lassen keinen Raum für Zweifel. Frau Gönül weiß genau was sie will: „Ich zähle die Tage, bis ich zurück ziehen kann“.
E rzählungen wie diese sind neben vielen weiteren Objekten in der virtuellen Ausstellung „Hier zuhause. Migrationsgeschichten aus Tirol“ (www.hier-zuhause.at) zu hören und zu sehen. Die Schau, die vom 1. Juni bis 3. Dezember 2017 im Tiroler Volkskunstmuseum zu sehen war, ist ein Kooperationsprojekt des Zentrums für MigrantInnen in Tirol (ZeMiT), den Tiroler Landesmuseen, der Universität Innsbruck, der Stadt Innsbruck und dem Land Tirol und erzählt von der Arbeitsmigration der 1960er- und 1970er-Jahre. Mit dem Fokus auf soziale Aspekte werden Erinnerungen von Zeitzeug_innen und persönliche Objekte miteinander in Beziehung gestellt.
Alle Objekte und Interviews sind auch im Dokumentationsarchiv Migration Tirol (https://www.zemit.at/de/dam.html) dokumentiert. Das DAM sammelt und archiviert Migrationsgeschichte in Tirol. Der Bestand umfasst Objekte und Interviews ab den 1960er-Jahren, die seit 1985 am ZeMiT gesammelt werden.
Verfasserin: Sónia Melo
Bildnachweis:
Bild 1: Fotograf: Daniel Jarosch
Bild 2: Privatbesitz Gönül. Digitalisat im Dokumentationsarchiv Migration Tirol.
Bild 3: Fotograf: David Schreyer
„Wir haben kommen müssen“ – Güldane Gönül, ein türkisches „Gastarbeiterkind“ in Tirol (pdf)