„Ich habe viel erlebt […] bin im Dorf auf der Straße gegangen […] mein Allah, habe ich gesagt, erlöse mich von diesem Leiden, solche Armut […] ja […] solche Tage haben wir erlebt […] hätte ich mein Leben verschriftlicht, hätte ich schon einen Roman, aber gelobt seien diese Tage wirklich. Ich habe gelitten, doch meine Kinder leben nun. Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt.“[i]
Güzel Dogan
Güzel kommt aus einer armen, kinderreichen Familie in Elazig (Osttürkei). Der frühe Tod des Vaters brachte die Familie in eine finanziell schwierige Lage. Bereits Güzels Mutter wollte deshalb Mitte der 1960er Jahre als „Gastarbeiterin“ nach Deutschland gehen – als Mutter von sieben Kindern konnte sie jedoch nicht vermittelt werden. Güzel lebte mit ihrem Ehemann und zwei Kindern in Istanbul, bevor sie am 4. September 1973 in einen Bus Richtung Wien stieg, um „Gastarbeiterin“ zu werden. Sie hatte ein Angebot der Schlosswarenfabrik Grundmann in Herzogenburg in Niederösterreich. Ihre Familie ließ sie in der Türkei zurück.
Güzel kann sich gut an den Tag ihrer Ankunft in Wien erinnern: Am 9. September kam sie mit dem Bus im 10. Bezirk an, wo sie von einem ihr unbekannten Landsmann erwartet wurde. Sie fürchtete sich und weinte, bis ihr schon in Österreich lebender Schwager kam. Bereits am Tag nach ihrer Ankunft nahm Güzel ihre Arbeit bei der Schlosswarenfabrik Grundmann in Herzogenburg auf. Sie wurde in der firmeneigenen Schleiferei beschäftigt und sollte dort 36 Jahre lang, bis zur Pensionierung, tätig sein. Im November 1973 kam Güzels Ehemann nach. Die beiden Kinder blieben bei der Großmutter in der Türkei, da die Eltern in Österreich keine ausreichende Möglichkeit der Kinderbetreuung hatten.
Das Ehepaar Dogan fand eine Unterkunft in St. Andrä, in der Nähe von Herzogenburg. Da es in der Wohnung kein Leitungswasser gab, musste Brunnenwasser mit Kübeln ins Haus gebracht werden. Der Weg zum Arbeitsplatz war anstrengend: Güzel und ihr Ehemann legten bei jeder Wetterlage vier Kilometer zu Fuß zurück. 1974 und 1977 brachte Güzel zwei weitere Kinder zur Welt. Aufgrund der schlechten Wohnverhältnisse wollte die Familie umziehen. Die Firma Grundmann stellte Dienstwohnungen zur Verfügung – allerdings nicht für Ausländer, wie man Güzel mitteilte.
Da die Familie Schulden hatte, musste sich Güzel auch von ihren in Österreich geborenen Kindern trennen. Eine Arbeitskollegin schlug die Adoption der beiden jüngeren Töchter vor, doch Güzel lehnte ab. Die Angst ihre Kinder nicht mehr zurückzubekommen, war zu groß. Daher vertraute Güzel auch diese Kinder ihrer Mutter in der Türkei an und schickteihnen per Post regelmäßig Geld. Telefonate mit der Familie waren sehr selten. Im Dorf der Mutter gab es kein Telefon. So musste Güzel ihrer Mutter zunächst das genaue Datum und die Uhrzeit brieflich ankündigen, damit diese zur vereinbarten Zeit in die Stadt zu Verwandten, die ein Telefon hatten, reisen konnte. Noch heute belastet Güzel, dass sie ihre Kinder zu ihrer Mutter geben musste, und sie das Muttersein nur sehr eingeschränkt erleben konnte.
1984/85 holte Güzel zunächst drei ihrer vier Kinder nach Österreich. Ihr jüngstes Kind übersiedelte 1989 nach St. Andrä. In der örtlichen Schule wurde der Familie Dogan mitgeteilt, dass keine „Gastarbeiterkinder“ aufgenommen werden. Deshalb besuchten die Kinder die Sonderschule in Herzogenburg. Die Kinder, so erzählt Güzel, gingen mit Freude in die Schule, konnten aber nicht verstehen, warum sie nicht in die reguläre Schule durften.
Güzel bedauert, dass sie ihre Kinder bei der Ausbildung nicht mehr unterstützen konnte. Güzels drei Töchter haben keinen Beruf erlernt und waren in diversen Firmen beschäftigt. Ihr Sohn hat eine Lehre absolviert und betreibt heute ein Juweliergeschäft in St. Pölten. Güzels Kinder und Enkelkinder leben alle in Österreich. Güzel hat insgesamt zehn Enkel. Der älteste Enkel ist bereits 24 Jahre alt und studiert in Wien Wirtschaft.
Ursprünglich hatte Güzel das Ziel, nach einem Verdienst von 100.000 Schilling wieder in die Heimat zurückzukehren. Güzel ist jedoch geblieben. Sie hat sich mit ihrem Ehemann und ihren vier Kindern in Österreich ein neues Leben aufgebaut und ist – wenn auch mit vielen schmerzhaften Erfahrungen – der Armut entkommen. In die Türkei fährt sie regelmäßig, um das Grab ihres Mannes, der vor einigen Jahren verstorben und in der alten Heimat beerdigt ist, zu besuchen.
[i]Aus dem Türkischen übersetzt von Ayse Arslan-Sezen. Diese Lebensgeschichte wurde bei der Ausstellung „Angeworben! Hiergeblieben! 50 Jahre ‚Gastarbeit in der Region St. Pölten‘ im Stadtmuseum St. Pölten präsentiert. Das Interview wurde von Sepp Gruber und Ayse Arslan-Sezen geführt. Die Geschichte wurde von Sepp Gruber niedergeschrieben und von Anne Unterwurzacher und Edith Blaschitz überarbeitet. Mehr zu der Ausstellung können Sie hier lesen: http://soziales- kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/432/779 (Stand 25.04.2017)
Verfasserin: Anne Unterwurzacher
Mag. Dr. Anne Unterwurzacher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Migrationsforschung und Leiterin des first- Forschungsverbundes Migration.
Bildnachweis
Alle Fotos: Privatbesitz Familie Dogan