Hätte Anna Lelewer davon geträumt, in ein anderes Land zu migrieren, dann wohl, weil sie dort als berühmte Tänzerin auftreten wollte. Dafür dokumentierte sie schon als Jugendliche all ihre Auftritte, klebte Fotos und begeisterte Presserezensionen in Alben. Doch ab 1938 wurde die junge Frau als „Halbjüdin“ verfolgt, sie verlor ihr Engagement im Landestheater Linz. Anna Lelewer musste die Flucht mittels eines Hausmädchenvisums nach England antreten und eine Scheinehe eingehen, um dort als Tänzerin auftreten zu können. Letztlich konnte sie ihren Traum der Karriere einer Tänzerin leben, doch er musste hart erkämpft werden.
Anna Lelewer wurde als einziges Kind später Eltern am 17. August 1915 in Wien geboren und wuchs wohlbehütet in einer gutbürgerlichen Wiener Familie auf. Ihr Vater war der 1872 geborene Rechtsgelehrte Georg Lelewer, der zuletzt als Senatspräsident des Obersten Gerichtshofs tätig war. Er und seine Frau Marie unterstützten den Wunsch ihrer Tochter, Tänzerin zu werden und ermöglichten ihr ab dem elften Lebensjahr Ballettunterricht. Nach der Matura im Gymnasium Rahlgasse inskribierte sie Englisch an der Universität Wien, bekam dann aber ein Engagement als Tänzerin in Basel. Sie begann, den Vornamen Anita zu verwenden, weil er interessanter klang. Die Karriere nahm ihren Anfang: 1937 tanzte sie zwei Wochen in Alexandria und vier Wochen an der Königlichen Oper in Kairo. Als die Wehrmacht Hitlers 1938 in Österreich einmarschierte, war die 22-jährige Anita Lelewer gerade am Landestheater in Linz engagiert, doch sie wurde umgehend entlassen. Das NS-Regime bedeutete einen radikalen Bruch im Leben der Familie Lelewer.
Annas Vater Georg Lelewer war bereits 1894 vom mosaischen Glauben zum Katholizismus konvertiert, doch aufgrund der nationalsozialistischen Rassegesetze galt er als „nicht-arisch“ und erhielt deshalb nach dem „Anschluss“ ein Lehrverbot an der Universität Wien. Anita Lelewer schaffte es, im Februar 1939 eine Arbeitsgenehmigung als Hausmädchen in London zu bekommen. Auf der Fähre nach England lernte sie Mr. Hurst kennen, mit dem sie in Kontakt blieb. Zunächst arbeitete Anita wie geplant in London als Hausmädchen, sie wurde aber bald entlassen. In dieser schwierigen Situation bot die Familie Hurst Anita Lelewer an, bei ihnen zu wohnen und formell als Hausmädchen angestellt zu sein. Die Hursts waren eine britische assimilierte jüdische Familie mit zwei Kindern, George und Louise, letztere war in Anitas Alter. Louise und ihr Freund Bob schlugen vor, einen Partner für eine mögliche Scheinehe zu suchen. Als britische Staatsbürgerin würde sie wieder auftreten können und außerdem bessere Chancen haben, ihre Eltern nach England zu holen, wie sie in den Memoiren sehr klar formuliert: „To free me from my domestic permit, to make it easier to bring my parents over.“ Diese beiden Gründe trieben sie also an, in die Suche einzuwilligen.
Anita Lelewer setzte im britischen Exil mit Unterstützung der Hursts zahlreiche Kontakte in Bewegung, sodass sie ihre Eltern im August 1939 nach London nachholen konnten. Einen Monat vor Ausbruch des Krieges gelang es den Eltern, in ein Flüchtlingsheim in Ramsgate (nahe Dover) zu ziehen, das von dem ebenfalls aus Wien geflüchteten Ingenieur Fritz Bild geleitet wurde.
Gleichzeitig war die Planung der Scheinehe bereits in vollem Gange. Als idealer Ehemann wurde der ehemalige Spanienkämpfer Donald Hutchison auserkoren, – ein homosexueller Mann, der sich ohne Gegenleistung dazu bereit erklärte. Um Kontrollen präventiv zu vermeiden und als Liebespaar glaubwürdig zu wirken, besuchte Anita Lelewer ihren formalen Verlobten regelmäßig in seiner Wohnung und versuchte dabei möglichst viele NachbarInnen zu sehen.
Die Hochzeit fand am 26. August 1939 in der Hampstead Town Hall statt. Anita Lelewer beschreibt, dass die Zeremonie nur zehn Minuten gedauert habe, danach war sie „Mrs. Hutchison, a subject of His Britannic Majesty“. Um den Schein zu wahren, fuhren die Frischvermählten sogar einige Tage auf Hochzeitsreise, was Anita Hutchison als den Beginn einer Freundschaft bezeichnet. Später lernte Anita Donalds Familie kennen, bei einem Treffen mit Donalds Vater waren sogar ihre Eltern eingeladen. Sie formuliert, dass Donald Freude daran hatte, „to show off his little wife“, wohl um Verdächtigungen hinsichtlich seiner Homosexualität aus dem Weg zu räumen. Zudem hätte es – für den Fall einer Kontrolle seitens der Polizei – die Glaubwürdigkeit der Ehe gestärkt, dass sich die Eltern und engsten Familienmitglieder kannten.
Anita Hutchison begann in dem Flüchtlingsheim, in dem ihre Eltern lebten, als Sekretärin zu arbeiten. Während ihr formaler Ehemann in der Royal Air Force diente, begann sie eine Beziehung mit Fritz Bild, ihrem 14 Jahre älteren Chef und Leiter des Flüchtlingsheims. Die beiden lebten ab Ende 1939 in wilder Ehe zusammen, formal blieb ihre Scheinehe noch bestehen. Als ihr offizieller Ehemann Donald Hutchison wegen einer Namensgleichheit beim Militär seinen Nachnamen in Douglas änderte, hieß auch sie Douglas. Sie wählte diesen Namen zugleich als ihren Künstlernamen, den sie ihr Leben lang beibehielt. Die nunmehrige Anita Douglas arbeitete vorerst als Choreographin und Kabarettistin. Nach dem Eintritt der Sowjetunion in die Anti-Hilter-Koalition 1942 wurde der russische „Kosakentanz“ in Großbritannien en vogue. Da sie diesen noch bei ihrem Ballettlehrer in Wien gelernt hatte, eröffnete sich für Anita nun die Möglichkeit einer Tanzkarriere: Sie wurde bald in russischen Ensembles engagiert und tourte als „Russian Dancer“ durch das Land.
Anita Douglas lebte weiterhin mit dem Ingenieur Fritz Bild zusammen, im Juni 1943 wurde ihr gemeinsamer Sohn Peter Georg Douglas während eines Bombenangriffs geboren.
In den Jahren 1944 bis 1946 war Anita Douglas beim New Jewish Theatre und tanzte bei einigen Benefizveranstaltungen für das Austrian Centre, einer österreichischen Exilorganisation. Nach Kriegsende stellte sich die Frage der Rückkehr nach Österreich: Georg Lelewer, der im Exil ebenfalls politisch tätig gewesen war, entschied sich 1946 für die Heimkehr nach Wien und beteiligte sich am Wiederaufbau des österreichischen Justizwesens. Die Mutter war bereits 1943 verstorben. Anita Douglas dachte – trotz der schriftlichen Einladung des Wiener Stadtrats Viktor Matejka im Mai 1946 – nicht an eine Rückkehr nach Wien und blieb in London.
1949 heiratete Anita Douglas den Kindesvater Fritz Bild, zwei Jahre nach der Scheidung von ihrem Scheinehemann Donald Douglas. In ihrer zweiten Heiratsurkunde kann Anita Douglas, dank der vorangegangenen Scheinehe und Entwicklungen im Exil, als Beruf „Singer“ angeben. Sie spielte in der Collins’ Musical Hall in Islington und dem Theatre Royal in Windsor und trat in einer kleinen Rolle in einer BBC-Produktion auf. Als Mittvierzigerin beendete Anita Bild ihre Theaterkarriere. Die letzten 15 Jahre ihres Berufslebens war sie bei der BBC in einem Team ehemaliger Flüchtlinge tätig. Sie begann als Sekretärin, später übernahm sie die Leitung und war Drehbuchautorin für die Englisch-Sprachkurse im „Bush House“, die im deutschen Sender der BBC ausgestrahlt wurden. Anita Bild starb Ende 2012 mit 97 Jahren selbstbestimmt in London.
Anita Bild schrieb ihre Memoiren im Alter von 75 Jahren. Die persönlichen Lebenserinnerungen, die ihrem Sohn Peter und ihren Enkeltöchtern gewidmet sind, wurden 2018 unter dem Titel „A Cherry Dress“ herausgegeben. Ihre Erzählungen zeigen auf, wie sie nach einem erzwungenen Bruch ein vielfältiges künstlerisches Leben im Exil fortzusetzen vermochte – dank ihrer Scheinehe.
Verfasser / Verfasserin: Peter Bild und Irene Messinger
Irene Messinger ist Politikwissenschaftlerin und Exilforscherin, zuletzt hat sie eine Ausstellung im Jüdischen Museum Wien über Scheinehen in der NS-Zeit kuratiert.
Der Text ist eine gekürzte Fassung des Beitrags: Anita Bild. Eine durchdachte Scheinehe für eine Tanzkarriere (gem. mit Peter Bild), In: Sabine Bergler, Irene Messinger (Hg.): Verfolgt. Verlobt. Verheiratet. Scheinehen ins Exil, Wien: Jüdisches Museum Wien, 2018, S. 54–63.
Bild, Peter / Messinger, Irene (Hg.Innen): A Cherry Dress. Kommentierte Memoiren der exilierten Lebens- und Bühnenkünstlerin Anita Bild, Reihe ‚manuscripta theatralia‘, Band 2, Wien/Main: V&R unipress, 2018.
Bildnachweis:
Alle Fotos: Sammlung Peter Bild
Verwendung des Buchcovers „A Cherry Dress“ mit freundlicher Genehmigung des Verlags V&R unipress