In Wien befanden sich laut der Volkszählung im Jahr 1900 knapp über 100.000 tschechischsprachige Personen, sie arbeiteten dort als Ziegelarbeiter, Dienstbotinnen, Handwerker oder SchneiderInnen. Die sogenannten „Ziegelbehm“ sind oft erzählter Teil der Wiener Geschichte. Weniger bekannt ist, dass vor und nach der Jahrhundertwende ebenso tschechische Bauernfamilien in den ländlichen Raum Niederösterreichs wanderten, Höfe kauften und Landwirtschaft betrieben. Viele kamen in die Region Hürm im heutigen Bezirk Melk, darunter die Eltern und Geschwister von Anna Janeček (Name wurde auf Wunsch der Familie abgeändert). In ihren Erinnerungen sind die Migrationsgeschichte ihrer Familie und das Aufwachsen als „tschechisches Mädchen“ in Niederösterreich heute noch lebendig.
Als sich die Familie Janeček 1911 aus der Umgebung von Uherské Hradiště aus dem damaligen Kronland Mähren auf den Weg in die Ortschaft Inning bei Hürm aufmachte, war die Migrationsbewegung in der Gegend noch voll im Gange. In Inning hatten sich zu diesem Zeitpunkt schon viele tschechische Personen angesiedelt, weshalb die Hürmer Bevölkerung den Ort oft auch scherzhaft „Inninku“ nannte, was für die Hürmer die slawisierte Form Innings darstellte. Bei der Wahl zur konstituierenden Nationalversammlung Deutschösterreichs 1919 erreichte die Tschechoslowakische Partei in Inning von 230 Wahlberechtigten 43 Stimmen, was knapp ein Fünftel ergab.
Die Interviewpartnerin Anna Janeček wurde 1923 als letztes Kind der aus Mähren stammenden Familie in Niederösterreich geboren. Sie kann uns noch aus den Erzählungen ihrer Eltern die Beweggründe für die Wanderung nach Niederösterreich und die Wahl des Hofes berichten.
„Ja, damals ist immer gesagt worden, es sind so viele verschuldet und darum sind so viele Höfe zum Verkaufen gewesen. Und drüben [in Mähren] haben sie mehr Geld bekommen. Der [Vater] hat sich mit seinem Geld hier das Doppelte kaufen können.“
„Ja, der Vater hat einen Hof gehabt drüben, der war aber kleiner als unserer da und da hat er es größer haben wollen. Damals waren in Österreich viele Höfe zum Kaufen. Wie er hergekommen ist, hat er unseren Hof besichtigt, dann in Diendorf einen Hof und den Krivy-Hof. Aber die Mutter wollte in einem Dorf sein und nicht auf einem Einzelhof und darum sind wir hierhergekommen.“
Die Familie Janeček verkaufte ihre Liegenschaft in Mähren und verließ gemeinsam mit dem Großvater von Anna die Gegend. Ihre Übersiedelung erfolgte auf Etappen, denn der mobile Besitz der Familie musste von Uherské Hradiště in die neue Heimat gebracht werden. Der Vater nahm den Landweg mit dem Leiterwagen, weil sie zu diesem Zeitpunkt ein trächtiges Pferd besaßen und das Tier nicht im Zug verladen werden konnte. Mit dabei waren moderne landwirtschaftliche Geräte, die in der Gegend von Hürm unbekannt waren.
Anna wurde zu einem Zeitpunkt geboren, als viele tschechische Familien die Region schon wieder verlassen hatten. Manchen war der Neuanfang in einem Gebiet, dessen Sprache sie nicht konnten, missglückt, weshalb sie den Hof wenige Jahre nach der Übernahme wieder verkaufen mussten. Anderen erschien nach dem Ersten Weltkrieg die neugründete Tschechoslowakei zukunftsfähiger als Österreich. Die Remigration der tschechischen Bevölkerung aus Hürm dauerte bis in die 1950er Jahre an.
Familie Janeček blieb jedoch in der neuen Heimat Niederösterreich. Annas Eltern suchten auch keine sozialen Kontakte zur örtlichen tschechischen Bevölkerung. Vor allem für den Vater hatte es oberste Priorität, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen. Als nach dem Ersten Weltkrieg der tschechische Komenksy Verein „Ortsgruppe Mank und Umgebung“ gegründet wurde, dürfte die tschechische Bevölkerung auch nach einer tschechischen Schule in Hürm verlangt haben – eine Idee, die Annas Vater nicht unterstützte, wie Anna erzählt: „Weil er wollte, dass seine Kinder in eine deutsche Schule gehen und nicht in eine tschechische. Zu was brauchen wir eine Tschechische Schule, wenn wir hier in Österreich sind. Mein Vater hat immer gesagt: Wessen Brot du isst, dessen Lied du singst. Und drum hat er mit den Tschechen keinen Kontakt gehalten. Er war unter den Bauern hier und in Hürm und wenn er in die Kirche oder ins Wirtshaus gegangen ist, war er nur unter den Bauern.“
Nichtsdestotrotz kam es innerhalb der Familie zur typischen Verwendung der tschechischen Sprache, denn die Mutter sprach kaum und der Großvater kein Deutsch. Die Kommunikation mit ihnen konnte nur in Tschechisch erfolgen, daher lernten die Kinder beide Sprachen. Die Tschechischkenntnisse von Anna sind heute allerdings begrenzt, weil nach dem Tod der Mutter und des Großvaters jene Personen fehlten, mit denen Tschechisch gesprochen werden musste. Dennoch zählt Anna Janeček zu den letzten Personen Hürms, die 100 Jahre nach der Migration der Eltern der tschechischen Sprache heute noch teilweise mächtig sind.
Familie Janeček betrachtete sich als Teil der Hürmer Bevölkerung, und doch gab es immer wieder Situationen, in der sie Diskriminierungen aufgrund der tschechischen Herkunft erlebten und als „Behm“ abgestempelt wurden.
„Ja, ich habs schon manchmal gehört, das ‚Böhm Mensch‘ […] Von den Lehrern weniger, aber auch von Erwachsenen. […] Nein in der Kirche nicht, in der Schule auch nicht, im Dorf, wie wir dann auf Unterhaltungen gegangen sind, da hat man es schon manchmal gespürt.“
Besonders hart nagte die die Diskriminierung während dem Zweiten Weltkrieg an der Familie, denn als Staatsbürger des Deutschen Reiches wurden ihre Brüder zum Kriegsdienst eingezogen, wobei zwei in Russland ihr Leben ließen, sie gleichzeitig zuhause jedoch Ablehnung erfuhren.
„Naja irgendwie hat es einen schon wehgetan. Weil ich mir gedacht habe, meine Brüder, vier waren im Feld, und man wird dann so [behandelt]. Man hat nichts machen können dagegen. Die Leute habe ich dann weniger geachtet. Wenn ich gewusst habe, der redet so, dann habe ich sie weniger geachtet. Ich könnte verschiedenes sagen.“
Den Kontakt in die alte Heimat hielt in erster Linie die Mutter aufrecht. Der Vater hingegen besuchte die Tschechoslowakei nicht, solange er deren Staatsbürgerschaft besaß, weil er Angst davor hatte, zu Übungen der tschechischen Armee eingezogen zu werden. Aus diesem Grund versuchte der Vater so schnell wie möglich, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Die Verbindungen mit der Verwandtschaft in der Tschechoslowakei flammten im Jahr 1968 unerwartet wieder auf.
„Aber in Tschechien hatten wir eine große Verwandtschaft von der mütterlichen Seite. Da haben sich dann viele beim Prager Frühling gemeldet, da haben sich viele gemeldet, so dass gar nicht gewusst haben, wer das eigentlich ist. Da haben dann ein paar Tschechisch geschrieben und da hab ich ihnen zurückschreiben können.“
Der Kontakt zur Verwandtschaft blieb jedoch nicht rein brieflich, sondern manifestierte sich in einem überraschenden Besuch der tschechischen Verwandtschaft in Inning. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Truppen des Warschauer Pakts nutzten einige Verwandte die noch liberalen Reisebedingungen für die Flucht über Jugoslawien nach Österreich. Sie blieben einige Tage am Hof, um später über Deutschland in die Schweiz zu emigrieren. Auch wenn die restliche Verwandtschaft in der ČSSR immer wieder den Kontakt zur Familie in Österreich suchte, wagte es die Familie Janeček während des Kommunismus nicht, die frühere Heimat zu besuchen. Sie befürchteten negative Folgen für die in Österreich geleistete Fluchthilfe.
Heute spielt das Tschechische in der Familie Janeček keine Rolle mehr, die Sprache wurde nicht weitergegeben und die Erinnerungen an die Migration der Familie verblassen mit den nachkommenden Generationen zusehends.
Verfasser: Michael Resch
Michael Resch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften an der Donau Universität Krems und war Projektmitarbeiter am Zentrum für Migrationsforschung für das Publikationsprojekt „Von Mähren nach Hürm. Tschechische Migration und Remigration in der Region Hürm zwischen 1890 und 1930.“ (2017).
Weitere Autoren des Publikationsprojektes waren Martin Bauer, Rita Garstenauer und Niklas Perzi.
Das lebensgeschichtliche Interview wurde im Rahmen des Publikationsprojektes von Niklas Perzi durchgeführt.
Wessen Brot Du isst, dessen Lied Du singst – pdf
Bildnachweis:
Bild 1 und 2: Sammlung Anton Cech.