„Ich bin mit dem derzeitigen Regime in der CSSR nicht einverstanden und habe immer Angst vor den sowjetischen Truppen gehabt. Die wirtschaftliche Lage wird von Tag zu Tag schwieriger und ich sehe in der ganzen Lage keine Zukunft mehr“, so formuliert es die damals 26-jährige Jana H.1 in einem im Oktober 1969 geführten Interview im Zuge ihres Asylverfahrens. Im Juli 1969 war sie legal, mit gültigen Papieren, über den kleinen niederösterreichischen Grenzort Drasenhofen per Autobus nach Österreich gekommen. Sie ist eine von vielen tschechoslowakischen StaatsbürgerInnen, die in diesen Tagen um Asyl in Österreich ansuchten. Denn im Sommer und Herbst 1969 fassten zahlreiche TschechoslowakInnen den Entschluss, ihrer Heimat endgültig den Rücken zu kehren.
In der ČSSR schritt die „Normalisierung“ der politischen Verhältnisse nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts am 21. August 1968 voran. Die Entwicklung gipfelte in der endgültigen Rücknahme der Reformen und der Entlassung der letzten im Amt geblieben führenden Protagonisten des „Prager Frühlings“. Viele, oft junge Menschen wollten die letzten Möglichkeiten einer legalen Ausreise nutzen und ihr Glück im Westen suchen. Das „Tor in den Westen“ war 1969, wie schon im Jahr zuvor, das Nachbarland Österreich.
Bereits 1968 fungierte die Alpenrepublik als Erstaufnahmeland für TschechoslowakInnen, die nach der Invasion ihre Heimat verlassen wollten. Von einer eigentlichen Fluchtbewegung kann man im Spätsommer 1968 noch nicht sprechen. Viele wollten nach dem Einmarsch die Entwicklungen in der Tschechoslowakei abwarten, da zum damaligen Zeitpunkt unklar war, inwieweit die Liberalisierungen und Reformen, wie beispielsweise die Reiseerleichterungen, von der Besatzungsmacht tatsächlich beschnitten werden würden. Vorsorglich besorgten sie sich Reisedokumente. Die österreichische Gesandtschaft in Prag stellte in den Tagen nach der Invasion doppelt so viele Visa wie sonst üblich aus. Und viele – bis Jahresende doch um die 200.000 Personen –, die bereits kurz nach dem 21. August legal nach Österreich ausreisten, waren ebenfalls bestrebt, hier die weiteren Entwicklungen in der Heimat zu beobachten. Dies traf auch auf zahlreiche UrlauberInnen zu, die auf Grund der Grenzsperren zwischen den osteuropäischen „Bruderstaaten“ im Zuge des Einmarsches nicht mehr in die Tschechoslowakei zurückkehren konnten und aus ihren Urlaubsorten in Jugoslawien oder Ungarn nach Österreich kamen. Einige kehrten bereits kurze Zeit später wieder in die Heimat zurück, andere aber dachten etwas länger über ihre Zukunft nach. Insbesondere die Betreuung der in Österreich abwartenden TschechoslowakInnen stellte die österreichischen Behörden und Hilfsorganisationen vor große Herausforderungen. Die Zahl an Asylanträgen in Österreich von TschechoslowakInnen stieg merklich jedoch erst gegen Ende 1968, aber viele warteten damit bis in das Jahr 1969 hinein. Insgesamt stellten 1968 4176, im Jahr 1969 dann 6529 tschechoslowakische StaatsbürgerInnen einen Asylantrag in Österreich.
Ein Beispiel unter vielen ist jenes der damals 20-jährigen Klara V. Die gebürtige Tschechoslowakin absolvierte nach der Matura die Ausbildung zu Programmiererin. Diesen Beruf übte sie bis zu ihrer Ausreise nach Österreich aus. Im August 1968 beteiligte sie sich an Streiks und Demonstrationen gegen den Einmarsch. Gemeinsam mit anderen MitarbeiterInnen ihres Betriebes stellte sie Flugblätter her und verteilte diese. Als sie jedoch feststellen musste, dass alle diese Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt waren, entschloss sie sich zur Ausreise, um vorerst die weiteren Entwicklungen abzuwarten. Sie hatte einen gültigen Reisepass, der erst im März desselben Jahres ausgestellt worden war, besorgte sich im September 1968 von der österreichischen Gesandtschaft in Prag ein Visum und reiste im selben Monat über den niederösterreichischen Grenzort Gmünd ins Nachbarland ein. Das in Prag ausgestellte Visum, das bis März 1969 Gültigkeit hatte, ließ sie sich in Wien verlängern. Der in der Heimat vollzogene „Normalisierungsprozess“ frustrierte sie jedoch zusehends und sie beschloss, dauerhaft in Österreich zu bleiben. Zudem befürchtete sie, für ihre politischen Aktionen gegen den Einmarsch nun zur Verantwortung gezogen zu werden. Erst im Oktober 1969 stellte sie einen Antrag auf Asyl.
Furcht vor politischer Verfolgung war jedoch nicht der einzige Grund in diesen Tagen, die Tschechoslowakei dauerhaft zu verlassen. Auch die Angst vor einem Militärdienst unter dem Eindruck der sowjetischen Besatzung bewog einige zur Ausreise nach Österreich. „Ich wollte unter solchen Umständen jedoch kein Soldat werden und habe mich daher für die Flucht entschieden“, gab 1969 ein 18-Jähriger, der kurz darauf seinen Präsenzdienst bei der tschechoslowakischen Armee ableisten hätte sollen, zu Protokoll. Daneben spielten aber auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle.
Viele sahen nach der Rücknahme der Reformen und dem Ende der Liberalisierung nun endgültig keine Zukunft mehr in der Heimat. „Durch das neue Regime wurde die Wirtschaft zugrunde gerichtet und deshalb will ich nicht mehr in der CSSR bleiben. Ich möchte mir in der freien Welt eine Existenz aufbauen“, so lautet die Auskunft einer jungen Frau im Zuge ihres im Oktober 1969 begonnen Asylverfahrens. Wirtschaftliche Überlegungen oder vielmehr die Angst vor einer sich weiter verschärfenden ökonomischen Krise waren ein durchaus oft genannter Fluchtgrund. „Durch das neue politische Regime wurde die Wirtschaft in der CSSR total ruiniert und ich sehe keine Lebensmöglichkeit mehr“, so äußerte sich eine andere Asylwerberin 1969. Die von der österreichischen Bundesregierung bereits im August 1968 ausgegebene Weisung, das Asylrecht im Falle der Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei großzügig zu handhaben, wurde auch in diesen Fällen angewendet. Tatsächlich wurden alle AsylwerberInnen aus der Tschechoslowakei, sofern keine dringenden Sicherheitsbedenken vorlagen, als politische Flüchtlinge anerkannt.
1968 und 1969 war Österreich Erstaufnahmeland und Durchgangsstation für all jene TschechoslowakInnen, die nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts und der politischen „Normalisierung“ für sich in der Heimat keine Zukunft mehr sahen und die gegebenen Möglichkeiten zur Flucht nutzen. Einige, schlussendlich geschätzte 2000 bis 3000 Personen, blieben in Österreich, viele suchten aber auch ihr Glück in anderen westlichen Ländern.
Verfasserin: Sarah Knoll
Sarah Knoll, MA ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien und führt derzeit das Forschungsprojekt: „Österreich und die Kommunismusflüchtlinge (1956–1989/90). Die Arbeit von NGOs und UNHCR“ durch.
Einer neuen Zukunft entgegen – TschechoslowakInnen in Österreich um 1968/69.pdf
1 Aufgrund des Datenschutzes sind alle Namen anonymisiert.
Quelle: Bundespolizeidirektion Wien, Abteilung 1, Asylwerber Niederschriften, ÖStA, AdR, BMI, 12 U, Karton 8, I-3.8.
Bildnachweis:
Bild 1: Niederösterreichische Nachrichten, Gmünder Zeitung vom 28. August 1969. Foto: Julia Köstenberger
Bild 2: Niederösterreichische Nachrichten, Gmünder Zeitung vom 29. August 1968. Collage: Julia Köstenberger
Bild 3: Privatsammlung, Foto: Julia Köstenberger