„Die Zahl der Emigranten wächst von Tag zu Tag. Wir werden wahrscheinlich in einigen Wochen schon zu einer richtigen Landplage für die Genossen hier werden. Besonders dann[,] wenn Du bedenkst, dass ein grosser Teil der deutschen Genossen auch in der Tschechoslovakei in Emigration lebt. Nach Russland habe ich mich schon gemeldet. Was daraus wird, weiss ich natürlich nicht, aber wenn ich mir vor Augen halte, was in Zukunft mit mir geschehen soll[,] bleibt mir nicht viel Wahl. Selbst im Falle einer Amnestie werde ich in Oesterreich keine Arbeit bekommen. […]“
Robert R., ca. April 1934 in Znaim (Znojmo)
Vom 12. bis 15. Februar 1934 herrschte in Österreich ein kurzer, aber traumatischer Bürgerkrieg – eine Folge der politischen und gesellschaftlichen Gräben, die sich in der Ersten Republik gebildet hatten. Das autoritäre Regime unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß führte einen Machtkampf gegen politische GegnerInnen. Eine Hausdurchsuchung in Linz beim sozialdemokratischen Schutzbund, löste den bewaffneten Widerstand von Teilen der Arbeiterschaft in Linz und Wien aus. Die furchtbare Bilanz des Bürgerkriegs: Hunderte Tote und Verwundete, einige Hinrichtungen, Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, offizielle Errichtung des autoritären „Ständestaates“ im Mai 1934.
Als sich während der Kämpfe die Niederlage des Schutzbundes und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei gegen die Exekutive und das Bundesheer abzeichnete, flüchteten viele „Februarkämpfer“ aus Österreich in verschiedene Nachbarländer. Das vorrangige Ziel war aufgrund der Nähe zu Wien die Tschechoslowakei, wo die parlamentarische Demokratie noch intakt war und wo oft noch Verwandte lebten. Eine aus Quellen bekannte Fluchtroute verlief in Niederösterreich über Seefeld-Kadolz und Zwingendorf über die Weinberge ins südmährische Joslowitz (Jaroslavice). Ein Wirt in Seefeld-Kadolz diente als Anlaufstelle für die „Februarkämpfer“, die sich mit Erkennungszeichen oder Losungswort meldeten. Auch Verwundete wurden in die Tschechoslowakei getragen. Wochen später folgten Angehörige und Kinder: So kam einmal nachts ein Autobus der Stadt Wien mit ca. 25 Kindern bis vor Zwingendorf, begleitet von der jungen Frau. Sie wurden nach Joslowitz gelotst, wo sie in der Schule bis in den Morgen auf den Weitertransport nach Brünn warteten.
Ca. 3.000 Österreicher und Österreicherinnen hielten sich 1934 als Bürgerkriegsflüchtlinge in der ČSR auf. Lager und Unterkünfte gab es in der Nähe zur österreichischen Grenze wie in Brno (Brünn), Mikulov (Nikolsburg), Znojmo (Znaim), Bratislava (Pressburg), aber auch in anderen Teilen des Landes. Die meist deutschsprachige Umgebung erleichterte zwar die Situation, allerdings durften die Flüchtlinge im Gastland nicht arbeiten und waren auf die Hilfe der sozialdemokratischen Parteien der ČSR angewiesen. Andere europäische Länder lehnten die Aufnahme der ÖsterreicherInnen ab. Die Lage spitzte sich aufgrund der Ungewissheit und Untätigkeit zu, viele wandten sich politisch dem Kommunismus zu. (Andere von der sozialdemokratischen Führung Enttäuschte schlossen sich auch dem Nationalsozialismus an.)
Das einzige Land, das dazu bereit war, Asyl zu gewähren, war die Sowjetunion: Ca. 750 Personen, darunter auch der eingangs erwähnte Robert R., konnten Ende April bzw. Anfang Mai 1934 mit Spezialtransporten per Zug aus der ČSR in das Land der „Diktatur des Proletariats“ reisen, wo sie als Helden des „Klassenkampfes“ und im Kampf gegen den Faschismus empfangen wurden. Die Integration in die sozialistische Gesellschaft bzw. das totalitäre System des Stalinismus gelang aber nicht immer. Und zahlreiche Menschen erwartete dort wenige Jahre später ein tragisches Schicksal im staatlichen Terror.
In der ČSR fanden die politischen EmigrantInnen zunächst noch recht liberale Umstände vor. So konnten sie auch politisch tätig sein und die sozialdemokratische Exilführung stellte in Brünn die in Österreich verbotene Arbeiter-Zeitung her, die dann über die Grenze verbracht wurde. Der Znaimer Raum bzw. das Weinviertel hatte die größte Bedeutung für den Schmuggel von politischem Material der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der Kommunistischen Partei bzw. für die Schleusung von Personen. Solche „Grenzstellen“ gab es noch in Neubistritz (Nová Bystřice) – Litschau und České Velenice – Gmünd sowie Kaplitz (Kaplice) für den Raum Oberösterreich. 1935 verschärften jedoch die Behörden der ČSR die Maßnahmen gegen die verbotene politische Arbeit und kooperierten stärker mit Österreich.
Da die ČSR bereits viele Menschen aus NS-Deutschland aufgenommen hatte, wurden die EmigrantInnen innenpolitisch immer mehr zum Streitthema, vor allem im Wahlkampf 1935. Die Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins kritisierte die Hilfe der sozialdemokratischen Parteien für die AusländerInnen scharf, unter Hinweis auf die Armut von InländerInnen. Im Laufe der Zeit verringerte sich die Zahl der österreichischen Bürgerkriegsflüchtlinge in den Lagern: Manche kehrten trotz schwieriger Situation nach Österreich zurück, andere kamen bei Verwandten in der ČSR unter. Einige gingen 1936 nach Spanien, um gegen das faschistische Franco-Regime zu kämpfen.faschistische Franco-Regime zu kämpfen.
Verfasserin: Julia Köstenberger
Mag. Dr. Julia Köstenberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Ludwig-Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung und Mitglied der
österreichisch-russischen Historikerkommission. Sie ist im first-Team im Bereich Vermittlung tätig.
Bildnachweis
Bild 1, 2, 3: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes
(DÖW); Fotoarchiv 1396; 2859/13; Akt 6882.
Quellen/Literatur
DÖW 6882 (Auszug aus dem Brief von Robert R.). DÖW 21.825/9 (Gesprächsprotokoll über die Fluchtroute bei Seefeld-Kadolz).
McLoughlin, Barry / Schafranek, Hans / Szevera, Walter: Aufbruch –Hoffnung – Endstation. Österreicherinnen und Österreicher in der
Sowjetunion 1925 – 1945, Wien 1996 (= Österreichische Texte zu Gesellschaftskritik; 64).
Karl R. Stadler: Opfer verlorener Zeiten. Geschichte der Schutzbund-Emigration 1934, Wien 1974.
Miroslav Kunštát, Jaroslav Šebek, Hildegard Schmoller (Hg.): Krise, Krieg und Neuanfang: Österreich und die Tschechoslowakei in den Jahren 1933-1948,
Berlin: LIT, [2017], 2017. (Schriftenreihe der Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker zum gemeinsamen kulturellen
Erbe; 2)
1934 – Flucht aus Österreich in die Tschechoslowake (pdf)