„Es war nur kurze Zeit [im Auffanglager in Shanghai]. Aber nachher hab ich mir dann fest vorgenommen, ich will nie vergessen, dass ich ein Flüchtling war, und gehungert habʼ.“ Olga Willner (1996)
Olga Willner, geboren 1920 in Wien, wuchs in St. Pölten auf und besuchte das Gymnasium der Englischen Fräulein. Ihr jüdischer Vater Dr. Leo Willner (geb. 1881), Facharzt für Gynäkologie in der Ambulanz der Kreiskrankenkasse und als Soldat im Ersten Weltkrieg mit dem Franz Joseph-Orden ausgezeichnet, hatte 1913 die Christin Franziska Hillebrand geheiratet. Zehn Jahre nach Olgas Geburt ließ er sich taufen, „vielleicht damit ich es leichter haben sollte“.
Der „Anschluss“ Österreichs an Deutschland und die nationalsozialistische Machtübernahme am 12. März 1938 bedeuteten eine dramatische Wende im Leben der Familie. Dr. Willner wurde am 15. März 1938 aufgrund seiner jüdischen Herkunft fristlos entlassen, und nach seiner kurzfristigen Verhaftung im November emigrierten Ehefrau und Tochter mit ihm nach Shanghai. Franziska kehrte als Witwe zurück. Olga verbrachte noch sechs Jahre in den USA, bevor sie nach Österreich zurückkehrte. Sie lebte ab 1957 in Wien. Olga Willner arbeitete in verschiedenen Funktionen in der Internationalen Atom-Energie-Organisation (IAEO), bis sie 1981 sie in Pension ging. Sie verstarb 2005.
Hat Ihr Vater gedacht, er kann in St. Pölten bleiben?*
„Wir sind freiwillig nach Wien übersiedelt, weil uns in St. Pölten jeder gekannt hat. Im August 1938, in eine Wohnung im 20. Bezirk. Am 10. November 1938 ist mein Vater auf der Straße … da hat er schon angefangen, Englisch zu lernen, auch um sich zu beschäftigen. Und er kam nicht nach Haus. Am Vormittag ist er zu seinem Englischkurs gegangen, und er kam nicht nach Haus. Da haben wir schon gewusst … Und nach fünf Tagen in der Nacht läutetʼs unten an der Tür, der Vati steht unten, unrasiert, bleich, und seine ersten Worte waren: ,Wir fahren nach Shanghai.‘
Der Vati hat einmal gesagt, sein Pass hat ihm – damals! – zehntausend Mark gekostet. Das war ein Vermögen. Abgesehen davon, dass er eh alles der Gestapo hat abgeben müssen, das ganze Geld.
Jetzt ham ma gʼschaut, dass der Vati zuerst wegkommt. Ich glaub, es war der 8. Jänner 1939 [richtig: 4. Jänner 1939; Anm. M.K.], ist er nach Triest und hat sich dort eingeschifft. Und lustiger Weise, in Triest war eine ehemalige Nonne von den Englischen Fräulein St. Pölten, die abgesprungen war schon damals, und da hat er dann wohnen können, und auch wir. Wir haben uns erst in Shanghai getroffen, wir sind mit dem nächsten Schiff gefahren.
Ich bin dann mit der Mutti ja vier Wochen später gefahren als der Vati. Und da ist auch die G’schicht’ mit dem österreichischen Schaffner. Ich war also eine glühende Patriotin, das bin ich noch heute, keine Nationalistin, aber eine Patriotin, mit aller Kritik des Landes und seiner Leute. Obwohl ich auch die amerikanische Staatsbürgerschaft habʼ.
Ich hab also nur geheult, geheult, geheult, und der Schaffner ist immer wieder kommen und hat mich getröstet, weil ich mich einfach nicht erfangen konnte, und nicht lang vor der Grenze ist er gekommen und hat gesagt: ,Jetzt hamʼs es bald überstanden.‘ Nicht alle Österreicher waren schlecht.“
Wie hat man in Shanghai gelebt? Gab es für die Juden ein Auffanglager?
„Ja, es war ein Lager, da sind wir ja von einer ziemlichen Luxuskabine auf Lastautos geladen worden – ich sehʼ noch meine Mutter, wie ihr die Tränen runterg’ronnen sind – und sind ins Lager. Natürlich ham ma kein Geld gʼhabt. Es war nur kurze Zeit. Aber nachher hab ich mir dann fest vorgenommen, ich will nie vergessen, dass ich ein Flüchtling war, und gehungert habʼ.
Und mein Vater hatte aber schon Kontakt mit der katholischen Mission aufgenommen, und hatte dann zwei Angebote. Die Ärzte waren natürlich sehr willkommen in China, auch in den Missionen. 1941 hat er einen Unfall gehabt. Der Vertrag wurde nicht erneuert, es wurde der Arbeitsunfall nicht abgegolten von der Mission, und so weiter. Er wurde nie wieder arbeitsfähig.
Wir sind dann nach Peking übersiedelt, und anfangs sind meine Eltern wirklich im Elend gewesen. Ich musste dann arbeiten, als Sekretärin. Ich war schon 21, ich hab Gott sei Dank kurz vor der Ausreise noch einen Tippkurs gemacht. Und ich habʼ dann auch Deutschunterricht gegeben, und so weiter und so weiter. Ich konnte leider dadurch, dass ich so viel arbeiten musste, das Chinesisch-Studium nicht weiter fortführen.
Meine Eltern haben sich nie eingelebt … Ich habʼ mich sofort und wunderbar eingelebt in China. Ich habʼ überhaupt mit Begeisterung dort gelebt.
Und ich muss eines sagen, ich wäre nie, nie mehr von China weggegangen, wenn der Mao Tse Tung nicht gekommen wäre. Ich war zehn Jahre in China. Meine Eltern sind 1947 wieder zurück. Mein Vater ist auf der Heimreise gestorben, am Schiff, an einem Gehirnschlag. Ich wollte überhaupt nicht nach Europa zurück. Und dann ist mir aber nichts anderes übriggeblieben, im 49er Jahr.
Ich bin wirklich eine Zigeunernatur. Wenn ich zurückkomme und hier in Wien die Tür aufmache, find ichʼs wunderschön, aber wenn ich lang hier bin, muss ich wieder weg.“
Verfasserin / Interviewerin: Martha Keil
PD Mag. Dr. Martha Keil ist Senior Scientist am Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Wien und Direktorin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs.
*) Das Interview mit Olga Willner führte Martha Keil am 2. 10. 1996 in Wien.
[… bedeutet eine Sprechpause.]
Bildnachweis: Alle Bilder: Injoest, Institut für jüdische Geschichte Österreichs