„dass mitten in Regimen in denen es auf – Tod und Wahnsinn gibt, einzelnen oft, das waren da die Juden, da die Partisanen, dann auf einmal ein Deutscher, dann ein Tscheche und der und der unter das Bett schaut, dass immer wieder Einzelpersonen da waren, – die alle Dienste – getan haben, und und tun mussten, aber menschlich gehandelt haben.“[1]
Es war im Mai 1945, da sollte sich das Leben der damals achtjährigen Helga Pohl (heute Gritsch) grundlegend ändern. Die Tochter eines Konditormeisters war bis dahin relativ unbehelligt von den Grauen des Kriegs im nordböhmischen Nixdorf (Mikulášovice) gemeinsam mit ihrer Mutter, dem jüngeren Bruder Norbert, den Großeltern und ihrer Tante Rosa aufgewachsen. Nixdorf war damals im „Reichsgau Sudetenland“ Teil des Deutschen Reiches. Die Kleinstadt war bekannt durch seine Messer- und Scherenfabriken und Bandwebereien. Helgas Vater war zum Kriegsdienst eingezogen worden, und als die Briten im Februar 1945 Dresden bombardierten, sah man die Feuersbrunst bis nach Nixdorf. In einem Lager eingepferchten hungernden Zwangsarbeitern, die zum Bau von Panzersperren herangezogen wurden, brachte die kleine Helga auf Geheiß ihrer Mutter Brotstücke. Als das NS-Regime zusammenbrach und Zwangsarbeiter Rache übten, verschonten sie das Haus von Helgas Familie. Doch das Schlimmste sollte noch kommen.
Nixdorf fiel, so wie alle anderen deutschböhmischen und deutschmährischen Gebiete, nach Kriegsende wieder an die Tschechoslowakei. Deren politische Repräsentanz mit dem Staatspräsidenten Edvard Beneš an der Spitze hatte sich zum Ziel gesetzt, den Staat nach 1945 von allen „nichtslawischen“ Elementen, den mehr als drei Millionen Deutschen und eine Million Ungarn, zu „säubern“. All das sollte möglichst rasch nach Kriegsende über die Bühne gehen, noch vor einer endgültigen Entscheidung der Alliierten über das Schicksal der Deutschen. Das Gros der Nixdorfer und Nixdorferinnen wurde so bereits in den Mai- und Junitagen 1945 über die Grenze nach Deutschland, genauer nach Sachsen, getrieben.
Genauso erging es 800.000 böhmischen und mährischen Deutschen (Sudetendeutschen), die nicht nur nach Deutschland, sondern aus Südböhmen und Südmähren auch in die sowjetische Besatzungszone nach Österreich, in das das Mühl-, Wald- und Weinviertel kamen, meistens mit nicht mehr an 30 Kilo Gepäck und der Kleidung, die sie am Leibe trugen. Besonders hart traf es dabei die Bewohner und Bewohnerinnen von sogenannten „Sprachinseln“, die Iglauer und Brünner Deutschen, die fünfzig Kilometer Fußmarsch bis zur Grenze bewältigen mussten. Hunderte, darunter besonders viele Ältere und Kinder, starben dabei an Unterernährung, Erschöpfung, Brechdurchfall und wurden in Massengräbern beerdigt. In provisorisch errichteten Lagern in Österreich brachen Seuchen aus, die wiederum hunderten das Leben kosten. Erst als im Jänner 1946 die geregelte Aussiedelung in Zusammenarbeit mit den Alliierten begann, entspannte sich die Situation etwas. Allerdings gingen dann keine Transporte mehr nach Österreich, sondern in das besetzte Deutschland. Ebenso mussten fast 100.000 der nach Österreich gekommen Sudetendeutschen das Land wieder in Richtung Deutschland verlassen. Nur etwa 120.000 konnten sich in Österreich, unter meist großen Schwierigkeiten, integrieren.
Helgas Familie durfte – musste – in der Tschechoslowakei bleiben. Die Mutter wurde zur Zwangsarbeit eingesetzt und musste zur Kennzeichnung als Deutsche eine weiße Armbinde mit einem großen schwarzen „N“ für Nĕmec tragen. Helga wurde bei den Großeltern und Tante Rosa untergebracht, die mit der österreichischen Staatsbürgerschaft ausgestattet, vor Verfolgung zunächst weitgehend geschützt waren. Erst mit der zweiten „Tranche“ gelangten auch sie gemeinsam mit der Mutter und dem jüngeren Bruder im Kinderwagen über die Grenze nach Deutschland, versorgt mit einigen Flaschen Schmalz und Brot von den Großeltern. Auf ihrem Weg trafen sie auf einen Mann, der sie in seinem Dachboden aufnahm, Helga wurde in eine nahe Mühle geschickt, um Brot zu erbetteln. Doch die Mutter wurde ernsthaft krank, sie musste in Deutschland bleiben. Die Kinder gingen mithilfe einer Schlepperin zu den Großeltern nach Nixdorf zurück. Dort wurden sie drei Monate lang im Haus versteckt. Dann gelang es, für die Kinder eine tschechische Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Helga wurde in die tschechische Schule geschickt, lernte dort die Sprache, ging gar zur Erstkommunion. Doch 1949 mussten auch Österreicher und Österreicherinnen die Tschechoslowakei verlassen. Helga und ihr Bruder sollten aber nach Ansicht der Behörden dortbleiben und in ein Waisenheim kommen. Die Großeltern „schmuggelten“ sie mit dem Zug nach Wien. Sie kamen gemeinsam am Südbahnhof an und wurden zunächst in die Wohnung einer Tante verfrachtet. Schlussendlich landeten sie aber in St. Pölten, wo ein Onkel arbeitete. Bald ereilten die Familie weitere Schicksalsschläge: Die Nachricht vom Tod des Vaters in Stalingrad traf ein. Als die Mutter endlich 1954 die nunmehrige DDR verlassen durfte, war sie abgearbeitet, erschöpft und starb bald darauf in St. Pölten. Helga besuchte nun die Schule in St. Pölten und hatte mittlerweile, geprägt von den Jahren in der tschechischen Umgebung, Schwierigkeiten mit dem Schuldeutsch. Sie wurde eine Klasse zurückgestuft. Ihre Großeltern galten lange noch als „Flüchtlinge“. Der Großvater, ein ehemaliger E-Werk-Manager, verrichtete kleine Reparaturarbeiten, um die finanzielle Situation zu verbessern. Man wohnte in zwei Zimmern in einem Gasthof, Kleiderspenden kamen von der Caritas. Doch wieder erhielt Helga Unterstützung, diesmal von einer Professorenfamilie, die ihr Nachhilfe gab. Sie absolvierte das Gymnasium bei den „Englischen Fräulein“ in St. Pölten und die Kindergärtnerschule in Wien. Ihren ersten Dienstposten trat sie auch bei den „Englischen Fräulein“ in St. Pölten an, im Kindergarten. Später bekam sie die Leitung des Kindergartens im Stadtteil Wagram übertragen. Dort lebt sie bis heute. Mit ihrem Mann zog sie vier Kinder groß, studierte daneben Theologie und nahm zwei Gastkinder auf. Nixdorf hat sie nicht vergessen, doch ihre Heimat ist, so sagt sie, heute St. Pölten und Österreich.
Verfasser: Niklas Perzi, Zentrum für Migrationsforschung
[1]Das Zitat stammt aus einem mit Niklas Perzi im Zuge des Forschungs- und Ausstellungsprojektes „Die Integration der deutschsprachigen Vertriebenen aus der Tschechoslowakei in Niederösterreich nach 1945“ am Zentrum für Migrationsforschung (ZMF) mit Helga Gritsch 2013 geführten lebensgeschichtlichen Interviews.