Im Jahr 1966 kam Kamer Arslan als einer der ersten „Gastarbeiter“ aus der Türkei nach Niederösterreich. Die Glanzstoff-Fabrik in St. Pölten, ein alter Chemiebetrieb, hatte damals dringend Arbeiter gesucht und ihn eingeladen. Dies geschah auf der Basis des Anwerbeabkommens zwischen Österreich und der Türkei von 1964. 1966 war Kamer Arlsan einer von insgesamt 6.767 türkischen Arbeitskräften in Österreich. (Diese Zahl steig bis zum Jahr 1974 auf 29.999 an. Heute leben rund 272.000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Österreich).1
Fünfzig Jahre später, im Jahr 2006, wurde Kamer Arslan zu seinem Leben als „Gastarbeiter der ersten Generation“ und seinen Erfahrungen in Österreich befragt. Der Schriftsteller Manfred Wieninger verfasste damals für die Zeitung „Augustin“ ein Porträt über Kamer Arslan, den der Autor in dem Artikel als „Gastarbeiter-Urgestein“ bezeichnete.2 Diesen Zeitungsartikel nahm Kamers Sohn Ekrem im Jahr 2014 als Grundlage, um für eine Ausstellung anlässlich des 50-jährigen Anwerbejubiläums mit der Türkei eine digitale Fotogeschichte über das Lebens seines Vaters zu gestalten. Für diesen Blog überarbeitete Ekrem die Fotogeschichte seines Vaters geringfügig.
Über die Darstellung des Lebens von Kamer Arslan als „Gastarbeiter“ hinaus gibt diese sehr persönlich gestaltete Lebensgeschichte einen Einblick in die bewegte Familiengeschichte der Familie Arslan. Erwähnt wird die kaum bekannte innertürkische Vertreibung aus Dêrsim/Tunceli ans Schwarze Meer im Jahr 1938, aber auch die Binnenmigration der Familie weg aus Anatolien, um sich in Istanbul einen Lebensunterhalt zu sichern.
Produktion: Zentrum für Migrationsforschung (www.migrationsforschung.at)
Zum Gestalter der Fotogeschichte: Ekrem Arslan kam im Jahr 1969 als 7-Jähriger gemeinsam mit seiner Mutter und einer seiner beiden älteren Schwestern das erste Mal nach St. Pölten, um mit dem Vater zu leben. Die Familie wohnte 1969 in einem einzigen, winzigen Zimmer in einem Wohnhaus im Norden von St. Pölten. Neben der österreichischen Hauseigentümerin lebten in dem kleinen Haus vier weitere türkische Familien, die sich eine Küche, Bad und WC teilen mussten. Diese schwierigen Wohnverhältnisse ließen einen längeren Aufenthalt der Familie nicht zu.
Deshalb hieß es für die Familie nach nur drei Monaten Abschied vom Vater zu nehmen und nach Istanbul zurückzukehren. Im Jahr 1970 zog Ekrems älterer Bruder – Hüseyin – nach St. Pölten, um ebenfalls in der Glanzstoff-Fabrik zu arbeiten. Aufgrund der unruhigen Situation in der Türkei mit raschen Regierungswechseln, wirtschaftlichen Problemen, extremer politischer Gewalt und Terrorakten schickte die Mutter ihren jüngsten Sohn Ekrem im Jahr 1978 ebenfalls nach St. Pölten. Die Mutter selbst kam dann 1979 nach; eine der beiden Schwestern Ekrems blieb in der Türkei, die andere zog zu ihrem Ehemann nach Deutschland.
In St. Pölten angekommen, suchte Ekrem Arbeit. Das Arbeitsamt verweigerte jedoch eine Arbeitsgenehmigung ganze zwei Jahre lang. Seitens des Arbeitsamtes hieß es stets, er solle sich doch eine Branche suchen, die für „Einheimische“ nicht attraktiv wäre. Nach zwei Jahren gelang es Ekrem endlich, eine Arbeitsgenehmigung als Hilfsarbeiter in der Glanzstoff-Fabrik zu erhalten. Anders als sein Vater, der bis zu seiner Pensionierung in der Fabrik blieb, verließ Ekrem die Fabrik jedoch nach einigen Jahren. Seit 2017 ist Ekrem als Forschungs- und Büroassistent am Zentrum für Migrationsforschung beschäftigt.
Verfasserin: Anne Unterwurzacher
Mag. Dr. Anne Unterwurzacher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Migrationsforschung und Leiterin des first-Forschungsverbundes Migration.
1 vgl. Sylvia Hahn und Georg Stöger (2014): 50 Jahre österreichisch-türkisches Anwerbeabkommen. Salzburg, S. 36. Aktuelle Zahlen finden sich in Statistik Austria (2017): Migration & Integration: Zahlen.Daten.Indikatoren 2017, Wien. http://www.integrationsfonds.at (Stand: 10.04.2018).
[2] http://www.augustin.or.at/zeitung/heroes/generation-sechsundsechzig.html (Stand 19.10.2017)
Bildnachweis: Alle Fotos Privatbesitz Ekrem Arslan