Während des Zweiten Weltkrieges waren rund 1,06 Millionen ausländische Zwangsarbeitskräfte auf dem Gebiet des heutigen Österreich zur Arbeit eingesetzt. Neben Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen waren hierher verschleppte Zivilist_innen, sogenannte Zwangsarbeiter, mit rund 580.000 Personen die größte Gruppe. Die meisten von ihnen stammten aus besetzten Gebieten Osteuropas, rund 110.000 aus dem heutigen Polen. Polnische Zwangsarbeiter_innen waren damit nach „Ostarbeitern“ d. h. aus sowjetischen Gebieten stammenden Zwangsarbeiter_innen und Italiener_innen die drittgrößte Gruppe unter den zivilen Zwangsarbeiter_innen auf österreichischem Gebiet.
Anna Borsodi war eine von ihnen. Geboren 1922 im Dorf Polany-Syrowyczni nahe Sanok in der Woiwodschaft Rzeszóv im heutigen Polen, wurde sie im Februar 1940, wie die gesamte Bevölkerung im von der Deutschen Wehrmacht besetzten Polen, im Zuge der Registrierung der gesamten „arbeitsfähigen Bevölkerung“ ebenfalls als „Arbeitskraft“ registriert. Wenig später teilte ihr das NS-deutsche Arbeitsamt in Rzeszóv mit, dass sie zum Arbeitseinsatz im „Dritten Reich“ zwangsverpflichtet werde. Man stellte sie vor die Wahl, ob sie nach Deutschland oder Österreich gehen wolle. Sie entschied sich für Österreich. Und dies hatte einen Grund: Ihr Vater hatte ihr dazu geraten, da er als Soldat der k.u.k.-Armee während des Ersten Weltkrieges in Tulln und in Tirol gewesen war. Oder wie sie selbst es in einem Interview 2009 formulierte: „Mein Vater hat gesagt, schau dass du nach Österreich gehst, in Österreich ist es gut.“
Zusammen mit anderen Zwangsverpflichteten aus ihrem Ort wurde sie zuerst mit Lastwagen nach Krakau/Krakow gebracht, von wo sie per Bahntransport weiter nach Wien gelangte. Nach der dort stattfindenden „Entlausung“ kam sie nach Tulln in Niederösterreich. Das dortige Arbeitsamt teilte sie einem landwirtschaftlichen Hof nahe Hausleiten bei Korneuburg als Arbeitskraft zu. Obwohl die Arbeit körperlich sehr hart war, beschrieb Anna Borsodi diese als erträglich. Sie hatte diese Arbeit bereits vom Hof ihrer Eltern in Polany-Syrowyczni gekannt. Die Familie, bei der sie am Hof untergebracht war, behandelte sie ihrer Aussage nach gut, und integrierte sie in ihr Familienleben, obwohl dies von Seiten des NS-Systems durch Verordnungen bereits seit Anfang 1940 streng verboten war. Gemäß den „Polenerlassen“ von März 1940 galten nämlich strenge Vorschriften für Unterbringung und Behandlung von „Fremdarbeitern“, wie das NS-Regime zivile Zwangsarbeiter_innen nannte. So sollten polnische Zwangsarbeiter*innen etwa streng isoliert von Einheimischen untergebracht und über Nacht eingesperrt werden, sie mussten außen an der Kleidung einen blau-weißen Aufnäher mit einem „P“ tragen, und sie durften nicht mit Einheimischen an einem Tisch essen. Generell sollte der Kontakt zwischen ihnen und der Bevölkerung auf das notwendigste Mindestmaß während der Arbeit beschränkt bleiben. Obwohl die Einhaltung dieser Regelungen regelmäßig kontrolliert und die Familie wegen der „Verstöße“ wiederholt abgemahnt wurde, änderte sich nichts. Anna Borsodi vermutete, dass die Familie die Traditionen des Zusammenlebens am Hofe höher hielt als die Vorschriften des Regimes, und sich deshalb den Anweisungen nicht beugte.
Borsodi blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und des NS-Regimes im April/Mai 1945 als Zwangsarbeiterin am Hof. Nun musste sie entscheiden, wie es mit ihr weitergehen solle. Sie hatte sich zunächst bereits für eine Heimkehr nach Polen entschieden. Dann aber erfuhr sie über den Briefkontakt mit ihrer in Deutschland ebenfalls als Zwangsarbeiterin eingesetzten Großcousine (beide hatten sich nach ihrer Verschleppung 1940 wiedergefunden und Briefkontakt gehalten, den Kontakt zu ihrer Familie hatte sie bereits verloren), dass ihre gesamte Familie im Zuge von Umsiedlungen aus der Woiwodschaft Rzeszóv ins Gebiet Tarnopol/Ternopil’ in der Ukraine zwangsumgesiedelt worden war. Dies und die Befürchtung, dass sie nach ihrer Rückkehr Opfer politischer Repressionen werden könnte, ließen sie von ihrer Entscheidung zur Rückkehr abrücken.
Sie entschied sich, vorerst auf demselben Hof, auf den sie 1940 als Zwangsarbeiterin gekommen war, zu bleiben, und weiterhin für die Bauersfamilie zu arbeiten. Auf diese Weise, so meinte sie, hatte sie wenigstens ein „Dach über dem Kopf“ und konnte sich mit dem Notwendigsten versorgen. Eine Heimkehr erschien ihr unter den gegebenen Umständen als „sinnlos“.
Auch den Zwangsrepatriierungen durch die sowjetische Besatzungsmacht konnte sie durch die Hilfe der Familie am Hof entgehen. Es seien zwar mehrmals sowjetische Soldaten am Hof gewesen und hätten nach „russischen Zwangsarbeitern“ gefragt, die Familie habe sie aber versteckt und den Soldaten gegenüber angegeben, dass sie den Hof schon längst verlassen hätte.
Im August 1945 heiratete sie einen Arbeiter aus Ungarn, der für kurze Zeit ebenfalls auf diesem Hof beschäftigt gewesen war. Beide beschlossen, in Österreich zu bleiben. 1948 erhielten beide die österreichische Staatsbürgerschaft. Sie blieben noch bis 1950 als Landarbeiter auf dem Hof beschäftigt. Später übersiedelten sie nach Stockerau. Anna Borsodi sollte ihre Entscheidung nicht mehr ändern – sie blieb in Österreich, in dem Land, in das sie als 18-jährige Frau gekommen war und sie hatte Zwangsarbeit leisten müssen.
Verfasser: Dieter Bacher
Anna Borsodi: Zur Zwangsarbeit nach Österreich gekommen – und in Österreich geblieben (pdf)